Wir leben in einer Zeit, in der Ereignisse selten geworden sind, die die Gesellschaft zusammenrücken lassen. Triumphe und Tragödien tragen das Potential dafür in sich – und gegenwärtig scheint Österreich die Euphorie rund um sein Fußball-Nationalteam ein Stück weit dorthin zu tragen.
Mir geht es hier aber nicht um den Sport, sondern um den gesellschaftlichen Subtext dessen, was hier passiert. Und das liegt vor allem daran, wie es gerade passiert. Denn das könnte nichts weniger als ein fundamentaler Zeitenwandel für ein geplagtes Land sein. Ein gutes Stück Paradigmenwechsel weg von dem, was Thomas Bernhard und Erwin Ringel so treffend wie traurig beschrieben haben. Eine Verschiebung zu Ralf Rangnicks Version, was diese Gesellschaft sein kann.
Schon die Vorgeschichte, die ihn in seine jetzige Rolle als Teamchef gebracht hat, ist von glücklichen Unfällen geprägt. Es ist den Österreichern eher passiert – und so richtig wissen, warum, tun viele heute noch nicht. Und prompt hielt der sich konsequent an eine steinalte Weisheit: „Alle haben gesagt, das geht nicht. Einer hat das nicht gewusst und hat es einfach getan.“
Dabei ist Rangnick gewiss kein Heiliger, er ist einfach ein Pragmatiker; ein glühender, detailverliebter Fußball-Freak; aber immer mit dem Menschen im Mittelpunkt; trotzdem – dem Sport entsprechend – den Wert eines Kollektivs kennend und nutzend. Er spricht so unaufgeregt logisch wie verständlich über Psychologie und Migration, während er vom Fußball redet. Er zeigt sich auch im Erfolgsfall unzufrieden mit Details, während er ohne zu Jammern auf Verbesserungen pocht; sieht Potentiale und schenkt Vertrauen. All das ist hierzulande so neu wie unrewartet und erfrischend.
Das Land? Groß ist man in (und als) Österreich, wenn man sich in (den ruhmreicheren Teilen) seiner Vergangenheit und ihren Errungenschaften suhlt – im Sport, in der Politik, in der Kultur. Dabei ist von Ruhm und Glanz wenig über, wie Rainhard Fendrich verbittert wie ernüchtert in der gerade revitalisierten, oft missverstandenen Ode „I Am From Austria“ singt. Klein ist man hingegen, wenn es um die dunklen Seiten geht, um die allgegenwärtige Korruption oder andere „kleine“ Betrügereien etwa, die als Kavaliersdelikt abgetan werden. „We are a too small country for a good doping“, wie der ewige Ski-Patriarch der Nation, Peter Schröcksnadel, zu sagen pflegte.
Man ist stolz „neutral“, weil man sich ja als Zwerg gefälligst nicht auflehnen darf und elegant aus der Verantwortung nehmen kann. Man ist „wer“, geradezu unter den Allergrößten, die über allen anderen stehen und hinunterlachen, wenn jemand schneller als die Anderen auf zwei Schiern den von immer weniger Schnee bedeckten Berg hinunterbrettelt.
So sehr alle besagten Eigenschaften Klischees sind, so gerne werden sie auch als Begründung und Ausreden für den eigenen Status, das nationale Versagen oder generell den Zustand des Landes missbraucht. Die Politik kokettiert und arbeitet beständig damit – je nach Bedarf. Auch die Musikbranche suhlt sich gerne darin: Wir sind ja ein kleines Land. Wir können nichts dafür. Das ist halt so. Was soll man denn machen.
Was aber gerade in und rund um die Fußballstadien der „Euro“ passiert, hat das Potential, diesen ganzen Schrott schichtweise auf den Sondermüll zu kippen und dem Land sein beständiges Selbstmitleid ebenso ein klein wenig auszutreiben wie dessen grässlichen Bruder Übermut. Denn auch die Spieler sind Zeugen einer neuen Generation. Marcel Sabitzer, Konrad Laimer, David Alaba – echte Leader, die mit beiden Beinen fest am Boden stehen; Ehrgeiz zeigen, aber nie abheben. Klug einordnen, wer sie sind und wo sie stehen, was sie als Gemeinschaft entgegen aller Einschätzungen zu erreichen imstande sind. Den Wert der Mitspielenden anerkennen, solidarisch als Mannschaft zu agieren und damit erfolgreich zu sein. In fast jeder Wortmeldung spielt eine Phrase eine zentrale Rolle, die man im Unterschied zu den Politikern tatsächlich so meint: Verantwortung übernehmen. Denn das bedeutet auch, Niederlagen zu akzeptieren, zu analysieren, zu begreifen und daraus zu lernen.
Was aber, wenn die Nationalmannschaft nun in der k.o.-Runde irgendwann, vielleicht sogar mit einem enttäuschend schwachen Spiel ausscheidet? Dann hat sie trotzdem weit mehr erreicht, als alle vor ihr. Sie hat ein mittleres Erdbeben in diesem Land ausgelöst und damit sprichwörtlich etwas bewegt. Vielleicht sogar die Tektonik im Land nachhaltig verändert. Sie lehrt dem Land breit und nachdrücklich, dass Zuversicht und Selbstvertrauen nicht gleich Nationalismus und Hinuntertreten sind, sondern elementare Grundpfeiler für ein gemeinsames Vorankommen. Und angesichts dessen, wo wir politisch und gesellschaftlich stehen, wäre ein solches bitter nötig.
Seien wir also mehr das, was Rangnick in uns sieht und weniger das, wie uns Ringel und Bernhard beschrieben haben.

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