Als das Radio in den 1920ern breitentauglich wird, gibt es im Groben zwei Herangehensweisen, wie man mit diesem mächtigen Tool umgehen sollte. In den USA ist Radio von vornherein etwas zutiefst Kommerzielles; ein Produkt des Marktes. So sind etwa die Hitparaden nichts anderes als ein Wunsch- und Nebenprodukt der Werbeindustrie: Zwischen den (nicht ganz zufällig auf etwa drei Minuten optimierten) Songs kann man prächtig und reichlich Werbeschaltungen platzieren. So finanziert sich das Radio und entsteht früh eine ökonomische Kette, die Popularität und Nachfrage (also „den Markt“) direkt und indirekt stark belohnt. Guten Morgen, Quotendruck.
In Europa hingegen erkennt man auch und zuvorderst das Potential für Information und Nachrichten; samt eines mächtigen Erziehungseffekts eines one-to-many-Kommunikators. Die Idee, eine kontrollierte, vertrauenswürdige Quelle dafür zu schaffen, führt zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk – und wird prompt von den kurz darauf aufkommenden autoritären Regimes auf das Übelste missbraucht.
Im Wesentlichen wiederholt sich das Muster mit den folgenden technologischen Entwicklungen, vor allem dem Fernsehen. Mit zusehender Liberalisierung, dem Markt-Optimismus der 1990er und dem scheinbaren Verschwinden der autoritären Bedrohungen zu jener Zeit wird man lasch und unterwirft sich spätestens mit dem Aufkommen des Internets immer mehr dem amerikanischen Modell.
Einerseits sind die Entwicklungen viel zu schnell zu mächtig; andererseits werden sie sträflich unterschätzt. So hinkt auch die Gesetzgebung hinterher, als das Internet seine anarchische Kraft entfaltet. Beispielgebend machen erst Napster, dann YouTube und schließlich die „sozialen Medien“ einfach mal jahrelang ihr Ding, ehe sich jemand fragt, auf welcher rechtlichen Grundlage dieses Monster eigentlich wächst, oder ob man nicht eine komplett neue dafür schaffen müsste.
Dabei geht es längst um eine Reihe fundamentaler Grundwerte, die an sich verhandelt schienen und als unumstößlich galten. Nicht nur das Urheberrecht, das sachlich wie argumentativ immer weniger mitkommt. Sondern auch, wo „freie Rede“ beginnt und endet; und in Konsequenz schließlich: Was die Wahrheit ist. Genau hier erreichen wir mittlerweile den Punkt, an dem wir offenbar zusehends einverstanden damit sind, dass auch das der Markt regelt – also der Recht hat, der die größte Reichweite, die dickste Geldbörse oder die lauteste Goschn hat. Und das ist fatal.
Staatliche Eingriffe, Regulierungen oder Kontrollen sind heute zu langsam, zu spät, zu lasch. Mitten in dieser trüben Suppe schwimmt der dadurch mittlerweile massiv bedrohte öffentlich-rechtliche Rundfunk. Tief in der Krise ist mit ihm die besagte vertrauenswürdige Quelle – jene verlässliche Informations- und Nachrichtenkraft, die es heute mehr denn je bräuchte.
Das marktliberale Versprechen der Meinungsvielfalt durch Medienvielfalt hat sich aufs Grotseke ins Gegenteil verkehrt. Statt Meinungs- gibt es eine gefühlte „Wahrheitsvielfalt“, dazwischen bestenfalls noch eine false balance. Dass ein lernresistenter, polternder Egomane mit dem Selbstverständnis eines allwissend-arroganten vierjährigen Kindes im mächtigsten Amt der Welt sitzt, hilft da auch nicht gerade.
Oft behaupte ich, das Musikuniversum sei immer wieder ein Vorbote für größere gesellschaftliche Entwicklungen gewesen. Hier gibt sie uns Ausblick auf eine ungute Zukunft mit einem Touch von „Full Circle Moment“. Wir sehen dort heute eine heimlich, still und leise wachsende Rolle des Corporate Publishing. Während sich der traditionelle Musikjournalismus seit Jahrzehnten einem schleichenden Tod entgegentippt, betreiben Konzerne wie Sony und Universal clever verkleidete Plattformen, um damit zunächst „neutral“ aussehende Meinung in ihrem Sinne zu machen (The Circle, uDiscover, we.are.unmute). Das ist zunächst nett und gut gemacht, trägt aber nur noch mehr zur Erosion des hier Diskutierten bei.
Journalismus ist per se die Einordnung und Kuratierung von Informationen; schließlich auch Wahrheitsfindung. Und jetzt versuchen die Unternehmen selbst die verloren gegangene Rolle einst großer Magazine einzunehmen? Werden die Unternehmen also die neuen Staaten, machen sie dann auch die Wahrheit? Oder verzerren sie sie doch eher wie seinerzeit die autoritären Regime; unter dem Deckmantel des „Journalismus“? Immerhin: Das religiöse Predigen von Trump-Botschaften hat Fox News zwar jede Glaubwürdigkeit im journalistischen Sinn gekostet, aber die Zahlen und Marktanteile des Senders sind fabelhaft. Und der Markt ist, wie wir eben gelernt haben, die Wahrheit.
Mit dem Aufkommen der Künstlichen Intelligenz wird die Unterscheidung echter, gut gemeinter und falscher Information noch bedeutend schwieriger werden. Wir nähern uns in rasantem Tempo einem Zeitalter, in dem wir nichts und niemandem mehr glauben können. Und selbst wenn es solche Quellen gäbe, entschiede ein undurchsichtiger Algorithmus eines allmächtigen Konzerns, ob wir sie zu sehen und hören bekämen – und wieviel andere, möglicherweise widersprüchliche Quellen ihnen entgegen stehen.
Nicht ohne Ironie stelle ich seit Jahren fest, wie traditionelle Nachrichtensendungen mehr und mehr wie absurde Komödien wirken und man umgekehrt die „echten“ Nachrichten viel ehrlicher und besser aufgearbeitet bei Komödianten in den Late Night Shows – bei Jon Stewart, John Oliver oder Stephen Colbert – findet.
Das Enttäuschende, sagte Kamala Harris jüngst in einem Interview justament bei Letzterem, sei nicht, dass all ihre düsteren Prognosen über eine zweite Trump-Präsidentschaft wahr geworden sind. Das Enttäuschende sei, wie wehrlos die ganze Welt dabei zusieht und die Zivilgesellschaft scheinbar völlig kapituliert hat.
Ich frage mich ja sowieso schon lange nicht mehr „Wie hat das damals passieren können?“, wie es in der Schule so ungläubig wie allgegenwärtig gefragt wurde. Ich frage mich aber dasselbe wie Kamala Harris.


Hinterlasse einen Kommentar