Leben im Rückspiegel.

Der Mensch ist ein Wesen, das in vielen Formen nach Bestätigung sucht. Es ist ein überlebenswichtiger Instinkt, der beginnend mit urzeitlichem „trial and error“ dafür gesorgt hat, dass wir irgendwann herausgefunden haben, welche Pflanzen giftig sind oder welche Werkzeuge für welchen Zweck wie zu kombinieren sind. Die Wissenschaft per se ist so entstanden: Was macht das und jenes, was funktioniert gut, welche Erkenntnisse ziehen wir daraus.

In der Musik sind etwa die Charts letztlich aus diesem Interesse heraus entstanden. Sie waren bereits das Ergebnis einer Form von Marktforschung, die nach und nach immer weiter in die Musiklandschaft vorgedrungen ist. Seit Jahrzehnten ist etwa der Begriff „Formatradio“ im Rundfunk prägendes Resultat davon: Gestützt auf Marktforschung wird das Programm des Radios immer weiter eingeengt, um einer bestenfalls präzise definierten Zielgruppe zu entsprechen. Ein vordergründig klug wirkender Gedanke.

In der Politik entwickelte sich analog dazu dasselbe: Umfragen sind nicht nur ein allgegenwärtiges Werkzeug geworden; gerade in Österreich werden sie von der politischen Kaste geradezu heiligengleich verehrt und bis ins Absurde eingesetzt.

Das Problem an alledem wird dabei immer offenkundiger: Mittlerweile machen die Umfragen die Politik. Jedes Statement, jeder politische Schritt wird auf seine Wirksamkeit abgefragt, ehe er gesetzt wird. Das prognostizierte Ergebnis bestimmt die Handlung.

Es ist eine Form von Vorsicht, mit der man praktischerweise einige Dinge auf einmal erledigen kann: Einerseits streift man elegant die Verantwortung ab, denn das Handeln wurde ja von der Umfrage vorgegeben. Andererseits befriedigt man das eigene Unterbewusstsein, denn psychologisch betrachtet ist die Angst, etwas zu verlieren doppelt so groß wie die Aussicht darauf, etwas zu gewinnen.

Seit 20 Jahren führe ich mit den großen Radiosendern des Landes die immergleiche Debatte über Mut. Neues auszuprobieren, ist deren Sache nicht. Das Formatradio-Prinzip erlaubt es nicht. Neues wird erst einmal in einer Umfrage ausgetestet. Gemacht wird nur, was schon irgendwo anders funktioniert hat (vgl. auch die wiederkehrende Erzählung vom „Propheten im eigenen Land“). Auch hier macht die Umfrage die Politik. Auch hier gilt: Bloß nichts riskieren!

Meine liebste Anekdote in diesem Kontext ist uralt: Ein fehlgeschlagener solcher „Test“ für einen Song verleitete einen Redakteur zu der bedauernden Aussage: „Das ist leider nicht durchschnittlich genug“.

Tatsächlich wurde noch selten mehr Wahrheit in einen Satz gepackt als in diesen. Der Satz ist so richtig wie bezeichnend und traurig.

Der allgegenwärtige Algorithmus ist nichts weniger als die Perfektion dieser Maschinerie. In der Musik, auf Instagram oder auf TikTok soll er uns nur das servieren, was wir eh schon gut finden und kennen, damit wir zufrieden sind, weiter im Programm bleiben und „doomscrollen“.

In der künstlichen Intelligenz zeigt sich stellenweise die böse Fratze derselben Logik: Die Algorithmen können nur zurück schauen. Sie bedienen sich aus allem, was sie aus der sichtbaren Vergangenheit kennen, und bauen daraus einen Durchschnitt. Weil sich die Erde aber weiter dreht und die gesammelte Vergangenheit nie ein Adäquat der Gegenwart sein kann, führt das logischerweise zu einem Bias – einer verzerrten Voreingenommenheit.

And guess what: Auch diese Umfrage macht mittlerweile Politik, denn wir – die Nutzer- und Betrachter:innen – übernehmen diesen Bias wieder und behalten ihn. Ein gerade erst beginnender Teufelskreis.

Es ist eine einfache Analogie: Der Rückspiegel im Auto ist eine großartige Erfindung. Er steigert das Sicherheitsgefühl, ermöglicht (fast) Rundumblick. Aber niemand bei Sinnen würde ernsthaft auf die Idee kommen, bei seiner Fahrt zum nächsten Ziel ausschließlich damit zu navigieren.

Die Ironie ist: Heute leben wir einer Welt, die in vielen Aspekten noch vor wenigen Jahrzehnten Science Fiction war; eine Utopie, „die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.“ Wir konnten sie überhaupt nur bauen, weil sich jemand erdreistet hatte, sie sich vorzustellen; weit nach vorne zu schauen.

Die Rolle von Kunst war immer genau das. Es wird ihre Rolle auch im Zeitalter neuer Werkzeuge bleiben: Die Veränderung als einzige Konstante im Leben begreifbar zu machen, die Tür ins Ungewisse aufzumachen, das Unbekannte mit dem hohen Risiko des „trial and error“ zu erkunden, zu erklären und zu erläutern. Wir werden immer neue Ideen brauchen, an denen wir uns probieren und abarbeiten können. Ich weiß, wo sie herkommen werden. „There is a crack in everything, that’s how the light gets in.“


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Kommentare

Eine Antwort zu „Leben im Rückspiegel.”.

  1. […] nicht neu und die Strategie schon gar keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. In meinem Kommentar Leben im Rückspiegel habe ich auf ein wichtiges Rädchen in diesem Spiel bereits einmal verwiesen: Das Radio. Das hat […]

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